Mittwoch, 9. Juli 2014

Etty Hillesum: Das denkende Herz der Baracke/ Über Gott und die Liebe

Etty Hillesum war eine junge Holländerin und Jüdin. Eine Juristin und Slavistin, eine Frau mit vielen Liebhabern, eine Frau, die davon träumte, durch Russland zu wandern und Bücher zu schreiben. Sie liest viel. Sie scheint über die Do it yourself-Abtreibung Bescheid zu wissen. Vielleicht hat sie auch getötet in einer Zeit, als so viele Menschen jäh aus dem Leben herausgerissen wurden. So wie Etty selbst.

Mit 27 Jahren beginnt sie, Tagebuch zu schreiben. Es ist das Jahr 1941. Immer mehr holländische Juden ziehen eine Karte aus ihrem Briefkasten. Diese ist quasi ihr Todesurteil, denn die, die es erwischt hat, müssen sich im Sammellager Westerbork einfinden. Von da fahren dann die Güterzüge nach Auschwitz in Polen. 1943 ist auch Etty dran. Sie rettet ihre Tagebücher. Doch sie selbst steigt im September 1943 in den Güterwaggon Nr. 12. Die letzte Spur von ihr ist in einem Totenregister in Auschwitz.




In einem ihrer letzten Tagebucheinträge beschreibt Etty das Grauen der Deportation aus der Sicht eines Polizisten, mit dem sie sprechen konnte: "Ich (so der Polizist) nehme in so einer Nacht (gemeint ist eine Transportnacht) fünf Pfund ab, und darf hier nur hören, sehen und schweigen."

Gleichzeitig wächst die Angst als nächste dran zu sein. Etty hat mit ihrem Leben innerlich schon abgeschlossen und überlegt, was sie für die Deportation packen soll: noch ein Buch mehr oder Lebensmittel? Dennoch will sie leben. Als sie eine Karte im Briefkasten sieht, erschrickt sie und trauert. Doch es ist nicht der Deportationsbefehl und sie darf noch ein bisschen leben und hoffen.

Die Hoffnung vergessen worden zu sein oder, dass noch rechtzeitig die Engländer und Amerikaner die Nazis besiegen und so das eigene Leben retten, wird dünner und dünner. Es ist ihr klar, dass die Deportation nach Polen ihr sicherer Tod ist.

Sie sieht das Grauen (Verzweifelte, die sich umbringen, Menschen, die nach jedem sinnlosen Strohhalm greifen, das Absurde: ein 9 Monate altes jüdisches Baby, das ohne Eltern in einem Krankenhaus aufgegriffen wird, gilt im Sammellager Westerbork erst als Straffall. Zur Strafe darf der Kinderwagen des Mädchens nicht in die Sonne geschoben werden...).

Aber sie hasst nicht. Sie bedauert einen Gestapo-Mann, der sie herumkommandiert. Wahrscheinlich habe er eine schlimme Jugend gehabt oder seine Freundin sei abgehauen. Sie will auch für einen deutschen Soldaten beten, der sich in die Tochter eines Rabbiners verliebt und diese auf dem Sterbebett gepflegt habe. Ein anderer deutscher Soldat, eigentlich ein Österreicher, sei Professor in Paris gewesen und wird mit dem Satz zitiert: "In Deutschland sterben mehr Soldaten in den Kasernen als vor dem Feind."

Sie sieht das Böse auch in sich selbst und wie sie selbst als verletzter Mensch andere Menschen verletzt: "ich habe meine Opposition gegen meine Mutter immer noch nicht aufgegeben, und deshalb tue ich die Dinge, die ich an ihr verabscheue, in genau derselben Weise wie sie..." oder "Ich weiß mittlerweile, dass es Tage gibt, in denen man Widerwillen gegen seinen Nächsten hat, und dass dies auf einen Widerwillen gegen sich selbst zurückzuführen ist."

Gleichzeitig beklagt Etty auch die Rolle der Judenräte, für den sie schließlich auch kurze Zeit tätig wird und dem sie auch einen vorübergehenden Passierschein zu verdanken hat. Diese so genannten Judenräte erledigten den Verwaltungskram der Nazis im Zuge der Ermordung der Juden. Etty: "Es ist wohl nie wiedergutzumachen, dass ein kleiner Teil der Juden mithilft, die überwiegende Mehrheit abzutransportieren."

Der Hass übermanne auch die Opfer: Eine jüdische Mutter drohte ihrem Kind, dass es alleine auf den Transport müsse, wenn es nicht essen wolle. Klaas Smelik sr., ein Mitarbeiter des Judenrates, sei ebenfalls vom Hass druchdrungen. In den Worten Ettys: "Er hasst unsere Verfolger mit einem Hass, für den er, wie ich annehme, triftige Gründe hat. Aber er ist selbst ein Schinder. Er wäre der ideale Leiter eines Konzentrationslager..."

Sie lernt immer mehr, ihr Vertrauen in Gott zu setzen. Sie träumt, dass sie von Christus getauft wurde. Und spürt die Liebe Gottes in sich, egal, was draußen geschieht. "Ich ziehe das Gebet wie eine dunkle, schützende Wand um mich hoch, ziehe mich in das Gebet zurück wie in eine Klosterzelle, und trete dann wieder hinaus, "gesammelter", stärker und wieder gefasst."

"In manchen Augenblicken kommt es mir vor, als wäre das Leben für mich durchsichtig geworden, und auch die Herzen der Menschen, ich schaue und schaue, und begreife immer mehr, und ich werde innerlich immer friedvoller; in mir ist ein Vertrauen auf Gott, das mich zunächst durch sein rasches Wachstum fast ängstigte, das mir nun aber immer mehr zu eigen wird."

Etty schaut nicht auf die bösen Taten, sondern auf die Not der Menschen und will sie zu Gott führen:

"Ich danke dir (gemeint ist Gott), dass du so viele Menschen mit ihren inneren Nöten zu mir kommen lässt. Sie sitzen ruhig und arglos da, sie reden mit mir, und plötzlich bricht ihre nackte Not heraus. Und auf einmal sitzt da ein verzweifeltes Häufchen Mensch und weiß nicht, wie es weiterleben soll. Und da fangen die Schwierigkeiten für mich erst an. Es genügt nicht, nur von dir zu predigen, mein Gott, man muss dich in den Herzen der anderen erst aufspüren. Man muss den Weg zu dir im anderen freilegen, mein Gott, und dazu muss man das menschliche Gemüt gut kennen. Man muss ein geschulter Psychologe sein. Verhältnis zu Vater und Mutter, Jugenderinnerungen, Träume, Schuldgefühle, Minderwertigkeitsgefühle, nun ja, eben das ganze Drumherum. Bei jedem, der zu mir kommt, gehe ich sehr behutsam suchend vor. Meine Mittel, den Weg zu dir für andere zu bahnen, sind noch sehr gering. Aber die Bereitschaft dazu ist da, und ich werde sie langsam und mit viel Geduld verbessern. Ich danke dir, dass du mir die Gabe verliehen hast, in anderen Menschen lesen zu können. Manchmal kommen mir die Menschen vor wie Häuser mit offenstehenden Türen. Ich gehe hinein, sehe mich in den Gängen und Zimmern um, jedes Haus ist ein wenig anders eingerichtet und doch gleichen sie einander. Man sollte aus jedem Haus eine Wohnung machen, die dir geweiht ist, mein Gott. Und ich verspreche dir, ich verspreche dir, dass ich in so vielen Häusern wie möglich Unterkunft und Wohnung für dich suchen werde, mein Gott. Das ist eigentlich ein lustiges Bild. Ich gehe einen Weg entlang und suche nach einer Unterkunft für dich. Es gibt so viele leerstehende Häuser, in denen ich dich als Ehrengast unterbringe."

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